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Die Patellaluxation
von Bernhard Massel-Lemanski
Terrier sind gesund – wird zumindest häufig behauptet – und
Erkrankungen des Skelettes, wie z.B.
die Hüftgelenksdysplasie (HD)
scheinen nur bei den größeren Rassen
eine Rolle zu spielen. Dennoch
berichten Besitzer vor allem der
niederläufigen Terrier immer wieder,
dass ihr Hund während des Laufens
einen Hüpfschritt mit einem oder
abwechselnd mit beiden Hinterbeinen
einlegt. Bei manchen Hunden scheint
auch das Treppensteigen oder das
Hochspringen auf die Couch
Schwierigkeiten zu bereiten. Und in
ganz schlimmen Fällen können die
Besitzer beobachten, dass ein Bein
beim Laufen überhaupt nicht mehr
belastet wird und der Hund nur auf
drei Beinen läuft.
Alle diese Veränderungen deuten darauf hin, dass der Hund
eine Verlagerung der Kniescheibe
hat, was in der Sprache der
Veterinärmediziner als
Patellaluxation bezeichnet wird.
Wenn man sich die Struktur des Kniegelenkes anschaut, sieht
man, dass es sich um ein besonders
kompliziert aufgebautes Gelenk
handelt. Nicht nur Scharnier-,
sondern auch leicht Drehbewegungen
können in ihm ausgeführt werden.
Damit dies möglich ist, sind im
Kniegelenk mehr Strukturen zu
finden, als in anderen Gelenken.
So kann man zunächst einmal zwei verschiedene Gelenke
unterschieden, nämlich
-
das Kniekehl- und
-
das Kniescheibengelenk.
Die Inkongruenz (die Gelenkflächen passen nicht zusammen,
wie z.B. beim Hüftgelenk = kugeliger
Gelenkkopf und tiefe, passende
Pfanne) des Kniegelenkes, also des
Gelenkes zwischen Oberschenkel und
Schienbein, wird ausgeglichen durch
zwei fasrige, mandarinenförmige
Knorpel, die Menisken, die
gleichzeitig als Stoßdämpfer oder
Puffer dienen. Diese Menisken sind
untereinander aber auch mit dem
Schienbein durch Meniskenbänder
verankert. Das ganze Gelenk wird
durch kräftige Bänder an der
Außenseite, aber auch im Inneren
(Kreuzbänder) stabilisiert. Und
nicht zuletzt wird das gesamte
Gelenk von einer straffen
Gelenkkapsel umschlossen, die
ebenfalls zur Stabilisation
beiträgt.
Oberschenkelmuskulatur und die
Wirkung auf
die
Kniescheibe während der Bewegung
Die Kniescheibe oder Patella ist ein Teil des Kniegelenkes.
Sie ist in der Endsehne eines der
stärksten Muskeln, dem großen
Oberschenkelmuskel oder Musculus
quadrizeps, eingelagert und über
diese Sehne am Schienbein
angeheftet. Wird das Gelenk gebeugt,
dient die Patella dazu, die Sehne in
ihrer Funktion zu unterstützen und
ein Abknicken zu verhindern. Zieht
sich der Quadrigazeps zusammen, wird
das Kniegelenk gestreckt. Bei
diesen Bewegungen gleitet die
Patella wie ein Schlitten in einer
tiefen Rinne des unteren Abschnitts
des Oberschenkelknochens auf und ab.
Wenn nun die Patella diese Bahn,
entweder nach innen (medial) oder
nach außen (lateral) verlässt, nennt
man das Patellaluxation.
Die Ursachen für dieses Phänomen sind oft sehr komplexer
Natur.
Die einfachste und natürlich nicht erbliche ist die äußere
Gewalteinwirkung. Es kommt zu einer
starken Dehnung der Seitenbänder des
Gelenkes, die der Kniescheibe Halt
geben, und manchmal sogar zu einer
Zerreißung. Wird die Zugrichtung der
Sehne, in der die Patella
eingelagert ist, durch extreme
Bewegungen verändert – sie verläuft
normalerweise gerade zur Gleitbahn
der Patella – wird die Kniescheibe
aus ihrer Bahn herausrutschen.
Bei so genannten X- oder O-Beinen, angeborenen
Fehlstellungen der Hintergliedmaßen,
ist die Zugrichtung der Patella bei
Bewegungen des Kniegelenkes immer
schräg zu ihrer Gleitbahn. Es kommt
so zu einer Überlastung der
Seitenbänder, die sich extrem
dehnen. Bei O-Beinen springt daher
die Patella häufig nach innen
(medial) und bei X-Beinen nach außen
(lateral) aus ihrer Bahn.
Bei kleinen Hunden, zu denen aus unsere niederläufigen
Terrier gezählt werden müssen, ist
die Rinne, in der die Patella hin
und her gleitet, häufig nicht tief
genug ausgeformt. Diese
Unterentwicklung alleine kann schon
Ursache für eine Erkrankung sein.
Häufig ist sie jedoch kombiniert mit
einer Fehlstellung der Gliedmaßen
und durch Laxheit der anderen Bänder
des Kniegelenkes hervorgerufene
außergewöhnlich starke
Drehbewegungen.
Mit fortschreitendem Alter werden die Bänder bei dieser
erblich bedingten Patellaluxation
durch die dauernde Überbeanspruchung
ihre Festigkeit verlieren und die
betroffenen Tiere bekommen mit den
Jahren zunehmend Probleme beim
Laufen.
Die Patellaluxation –
Teil II
Jeder dafür ausgebildete und registrierte Tierarzt darf
diese Untersuchung durchführen, bei
welcher der Hund weder sediert
(Narkose) noch geröntgt werden muss.
Es ist ein einfaches Abtasten der
Kniescheibe unter Druckeinsatz im
Stehen, Liegen sowie in der
Bewegung.
Die Hunde sollten nicht jünger als 12 Monate alte sein (wie
bei der HD-Untersuchung).
Eine Patella ohne Befund wird mit 0 (Null) bezeichnet. Die
Grade 1-4 sind vergleichbar der
Einstufung der Hüftgelenksdysplasie
B bis E (Grenzfall, leichte,
mittlere und schwere HD). Formulare
zur Auswertung der
Patella-Untersuchung sind bei der
Hauptgeschäftsstelle in Kelsterbach
erhältlich. Den Befund kann der
Tierarzt auf der Rückseite der
Ahnentafel des Hundes vermerken und
mit seinem Stempel und seiner
Unterschrift versehen.
|
|
Aufbau des Knieglenkes -
frontale Ansicht |
Kniegelenk mit korrekt sitzender
Patella |
Aufbau
des Kniegelenkes -seitliche Ansicht
Zum besseren Verständnis der Patellaluxation und der
getroffenen Maßnahmen folgt ein
Kurzbericht über PL (Patellaluxation)
und ihre Ursachen:
Patellaluxationen (Verrenkungen) treten relativ häufig bei
Hunden und selten bei Katzen auf.
Dabei können verschiedene Klassen (nicht
zu verwechseln mit der Einstufung
nach Singleton Graden, siehe weiter
unten) definiert werden:
|
1. |
mediale (nach innen gerichtete) Luxation der kleinen
Hunderassen und gelegentlich
auch der großen Rassen |
|
2. |
laterale (nach außen gerichtete) Luxation der kleinen
Hunderassen |
|
3. |
mediale Luxation, die durch ein Trauma (Unfall oder
ähnliches) ausgelöst wird – alle
Rassen |
|
4. |
laterale Luxation der mittelgroßen und Riesenrassen |
Zur medialen Luxation der kleinen Hunderassen, zu denen
z.B. Yorkshire, West Highland White,
Cairn oder auch Border und Parson
Russell und Jack Russel Terrier
gehören.
Die mediale Verrenkung (Luxation) der kleinen Hunderassen
wird oft als kongenital (angeboren)
bezeichnet, da sie sehr früh im
Leben auftritt und nicht mit einem
Trauma assoziiert werden kann. Da es
in den letzten Jahren zu einer
signifikanten Häufung der
Patellaluxation gekommen ist, geht
man von einer erblichen Ursache aus.
Die Luxation muss nicht zwangsläufig
zum Zeitpunkt der Geburt vorhanden
sein, allerdings sind die
anatomischen Deformitäten
(Veränderungen), die eine
Patellaluxation ursächlich auslösen,
zu diesem Zeitpunkt schon vorhanden.
Die einzig gut erforschte Ursache
des Erscheinungsbildes der medialen
Patellaluxation ist die sogenannte
Coxa vara (Fehlstellung des
Hüftgelenkes). Dabei kommt es zu
einer Verkleinerung des Winkels
zwischen Oberschenkelhals und
Oberschenkelschaft. Diese
grundsätzliche skelettale
Veränderung wird als Ursache einer
Reihe von komplexen Fehlstellungen
der Hintergliedmaßen betrachtet, die
in die mediale Patellaluxation
mündet.
1 =
Patella liegt in der Rinne
2 =
Patella ist medial luxiert
Bei einer schwerwiegenden Patellaluxation kommt es zu
folgenden skelettalen Deformitäten:
|
1. |
Coxa vara (Klumphüfte) |
|
2. |
Unteres 1/3 des Oberschenkels biegt sich nach innen (Genu
varum = O-Bein) |
|
3. |
Seichte Rollfurche am untern
Obreschenkelknochen mit
geringgradig entwickeltem oder
fehlendem medialen (inneren)
Kamm |
|
4. |
Hypoplastischer (unterentwickelter) medialer Kondylus
(Gelenkknochen) am untern
Oberschenkel |
|
5. |
Mediale Verdrehung des
Schienbeinkopfes, mit Verdrehung
des gesamten Schienbeindrittels |
|
6. |
Mediale (valgus) Verbiegung des
oberen Schienbeindrittels |
|
7. |
Verdrehung des gesamten Fußes
nach innen, trotz lateraler
(nach außen gerichteter)
Verdrehung des unteren
Schienbeindrittels |
Eine Methode, die Schweregrade der Luxation zu beurteilen,
ist die nach Singleton, Sie dient
nicht nur der Zuchtselektion,
sondern sie wurde primär zur
Entscheidungsfindung der jeweiligen
Operationsmethode entwickelt:
Die Schwere der Erkrankung in Graden
(nach Singelton):
|
a) |
Habituelle Patellaluxation,
1. Grad
Die Kniescheibe ist in mittlerer Kniegelenkstellung nur
passiv (vom Tierarzt ausgelöst)
wegen zu lockerer Gelenkkapsel
verrenkbar.
|
|
b) |
Habituelle Patellaluxation,
2. Grad
Die Kniescheibe verrenkt sich plötzlich beim Laufen. Der
Patient läuft einige Schritte
auf drei Beinen, die Kniescheibe
springt dann aber wieder von
selbst in den Rollkamm zurück.
|
|
c) |
Stationäre Patellaluxation,
3. Grad
Die Kniescheibe ist ständig nach einwärts verrenkt, kann
aber durch den untersuchenden
Tierarzt in mittlere
Kniegelenkstellung kurzfristig
in den Rollkamm versetzt werden,
doch springt sie nachher wieder
in die verrenkte Grundstellung
zurück.
|
|
d) |
Stationäre Patellaluxation,
4. Grad
Die Kniescheibe ist innenseitig angewachsen, die Patienten
zeigen einen kaninchenartigen,
hoppelnden Gang. |
Die heutige in Deutschland vom VDH gültige Einteilung der
Patellaluxation-Grade, die auch auf
den Untersuchungsformularen
abgedruckt sind, sehen nach
Singleton folgendermaßen aus:
|
Grad 0 |
|
keine Luxation feststellbar,
nicht luxierbar |
|
|
|
|
|
Grad 1 |
|
In Beuge- und Streckbewegung
kann die Kniescheibe durch Druck
von medial/lateral luxiert
werden. Ein Einstellen des
Druckes führt zur spontanen
Reposition. |
|
|
|
|
|
Grad 2 |
|
Die Patella kann durch
Fingerdruck von lateral/medial
oder durch Strecken des Knies
durch den Untersucher oder das
Tier selbst luxiert werden. Die
Patella bleibt medial/lateral
luxiert und springt durch Druck
von medial/lateral oder durch
aktives Beugen und Strecken
zurück. |
|
|
|
|
|
Grad 3 |
|
Die Kniescheibe ist nach
medial/lateral luxiert. Sie kann
durch Druck von medial/lateral
in ihre normale Stellung
zwischen die Rollkämme gebracht
werden. Einstellen des Druckes
auf die Patella bewirkt ein
erneutes Luxieren der
Kniescheibe. |
|
|
|
|
|
Grad 4 |
|
Die Kniescheibe ist permanent
nach medial/lateral luxiert.
Eine Reposition ist nicht
möglich. |
Krankheitszeichen und Behandlung
Hunde, bei denen die Kniescheibe
fest in ihrer Position in der
Gleitrinne liegt und nur durch Druck
vorübergehend luxiert werden kann,
zeigen in der Regel keine Lahmheiten
und brauchen auch keine Behandlung.
Luxiert die Kniescheibe jedoch
spontan während der Bewegung aus der
Gleitrinne, so können mit der Zeit
Gelenksentzündungen und
Knorpelschäden entstehen, die dann
auch zu Lahmheiten führen.
Die Lahmheiten können sich durch
plötzliches Hochhalten des Beines
während einiger Schritte bemerkbar
machen. Dabei befindet sich die
Kniescheibe außerhalb der Gleitrinne.
Springt die Kniescheibe in ihre
normale Position zurück, wird das
Bein wieder normal belastet. Um
entsprechende Schädigungen im Gelenk
zu vermeiden, ist eine frühzeitige
Behandlung empfehlenswert.
Dies ist meist nur durch eine
Operation des Kniegelenkes mit
Vertiefung der Gleitrinne und
Versetzung der Ansatzstelle des
geraden Kniescheibenbandes möglich.
Die Behandlung hängt im Einzelnen
von Alter, Rasse und Ausmaß der
Veränderungen ab.
Schwierigkeiten bei der Erkennung
Eine einheitliche Zuchtselektion
scheiterte bisher an der
Schwierigkeit, das Ausmaß der
Veränderungen zu erfassen.
Da in vielen Fällen angeborene
Luxationen nicht mit Lahmheiten
einhergehen, ist es umso wichtiger,
diese Krankheitsträger zu erkennen
und von der Zucht auszuschließen.
Bei der klinischen Untersuchung
ergaben sich nach den früher
durchgeführten Untersuchungen zum
Teil erhebliche Abweichungen in der
Beurteilung zwischen den einzelnen
Untersuchern.
Dabei spielt der
Interpretationsspielraum, den die
verschiedenen
Klassifizierungssysteme zulassen,
eine wesentliche Rolle. Da es bis
heute nicht möglich ist, eine
zuverlässige Röntgendiagnose zu
stellen, bleibt die klinische
Untersuchung Grundlage für die
Beurteilung.
Untersuchung der Kniescheibe
Nach der Ganguntersuchung wird am
stehenden Hund die Stellung der
Hintergliedmassen und die Ausbildung
der Oberschenkelmuskulatur
beurteilt. Eine schlechte
Bemuskelung kann ein Hinweis auf
bestehende Lahmheiten sein.
Die korrekte Lage der Kniescheibe
wird überprüft. Dabei kann
Druckschmerz der Patella ein Zeichen
einer bestehenden Erkrankung mit
einhergehender Knorpelschädigung
sein.
Die endgültige Zuordnung des Luxationsgrades der
Patella (Kniescheibe) in die
oben genannten
Grade erfolgt in Seitenlage. Die
Untersuchung sollte bei unklaren
Befunden am stehenden und liegenden
Tier wiederholt werden, wobei immer
der schlechteste erhobene Befund für
die Beurteilung maßgeblich ist.
Der Einsatz von Beruhigungsmitteln
kann wegen einer herabgesetzten
Muskelspannung zu einer schlechteren
Beurteilung führen und ist nur in
Ausnahmefällen zu empfehlen. Werden
derartige Medikamente eingesetzt, so
wird dies im Untersuchungsprotokoll
vermerkt.
Hündinnen haben während der Läufig-
und der Trächtigkeiten weichere,
elastischere Bänder, was auf die
entsprechend veränderte
Hormonproduktion des Östrogens
zurückzuführen ist. Die Kniegelenke
einer Hündin sollten also
zweckmäßiger Weise nur außerhalb
dieser Zeiten auf eine eventuelle
Patella Luxation kontrolliert
werden, denn nur dann wird man den
Normal-Status feststellen können –
ansonsten könnte es zu einer
schlechteren Beurteilung führen.
Durch einen chirurgischen Eingriff können
sowohl die Knochenstrukturen
verändert, als auch die Bewegung der
Kniescheibe begrenzt werden. Die
Rille zwischen den Knochenkämmen
kann chirurgisch vertieft werden, um
so der Kniescheibe besseren Halt zu
geben. Die Kniescheibe selbst kann
befestigt werden, um ein
Herausgleiten zu vermeiden. Die
Sehne des Quadrizep-Muskels kann
abgetrennt und neu positioniert
werden, so dass der Zug dieses
Muskels die Kniescheibe nach unten
und nicht mehr seitlich beeinflusst.
Der Hund erholt sich von einer solchen
Operation recht schnell und ist
normalerweise nach 6 Wochen in der
Lage, das betroffene Bein ohne
Einschränkung zu bewegen.
Wenn man bedenkt, dass Patella Luxation erblich
ist, versteht es sich von selbst,
dass betroffene Hunde nicht in die
Zucht gehören. Sie können immer noch
wunderbare Liebhaber-Tiere sein und
diejenigen, die operativ behandelt
werden müssen, können nach dem
Eingriff ein ganz normales
Hundeleben führen, ohne irgendwelche
Beschränkungen ihres
Bewegungsablaufes.
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